bergsträßer anzeiger vom 29.5. 2006
Weißer Wal-Kampf als schwarze Messe
WOCHE JUNGER SCHAUSPIELER: Staatstheater Braunschweig inszenierte "Moby Dick"
Bensheim. Das pralle Epos als abgespecktes Kammerspiel. Ein Pottwal von einem Wälzer als Bühnenstück mit drei Schauspielern. Mario Portmanns Größenwahn sei Dank, hat sich das 135 Kapitel starke Büchlein in eine gewaltige Bühnen-Miniatur verwandelt. Zum Vergleich: Der Autor und Regisseur Klaus Buhlert ("Hörspiel des Jahres 2006" für "Mosaik") hat "Moby Dick" vor vier Jahren im Bayrischen Rundfunk als neunstündigen Lauschangriff inszeniert.
Zweifellos kein Schiffbruch, aber was das Braunschweiger Staatstheater am Samstag in Bensheim veranstaltet hat, gehört in die dünne Rubrik namens "einfach und grandios". Dass Portmann als schweizer Regisseur von 39 Jahren nicht gerade im Walfänger-Milieu groß geworden ist, ist eigentlich kaum zu glauben: so düster die Atmosphäre auf der Pequod, so urgewaltig und abgründig sind die seelischen Wellenschläge der Besatzung auf einem Segeltörn ins Herz der menschlichen Finsternis.
Magische Sogwirkung Der Kampf mit dem weißen Wal wird als schwarze Messe inszeniert, deren in weiten Teilen magische Sogwirkung das Publikum geradezu an jenen Mast fesselt, um den die Besatzung ihren Todestanz tanzt. Riesenapplaus im Parktheater für eine Abenteuergeschichte im Rhythmus der See, die trotz brillanter, aber der Vorlage frech ins Gesicht lachenden Einfälle niemals ins Seichte abdriftet. Melvilles Story über Hochmut und Untergang, Gottesfurcht und Rache sowie den inneren Drang nach gehaltvollem Reisen und persönlich wertvollen Entdeckungen.
Die Zuschauer spüren das Salz auf der Haut, als der junge Ismael auf dem Walfänger anheuert, den halbwilden Harpunier Queequeg kennen lernt und vom naiven Hänschenklein zum gegerbten Seemann wird. Das sanfte Wiegen des Ozeans versetzt ihn in einen seltsamen Zustand, der zwischen Achtung vor der Natur und menschlichen Wahnvorstellungen und kollektiver Führungsblindheit hin- und herschlägt.
Absurder Rachefeldzug Verhext wird die Mannschaft vom verbitterten Kapitän Ahab, dem der weiße Wal einst ein Bein genommen hat und der die Reise zum absurden Rachefeldzug macht. Mit wirrem Haar und mehlweißer Haut macht Ahab seine seetüchtigen Kreuzritter mobil für einen Kampf gegen das vermeintlich Böse, das als unsichtbare Bedrohung um die Pequod schwimmt. Das Riesenmeer lässt keine Fluchten zu, der Meeresriese wird vom Verfolgten zum Jäger und bald zum Ausdruck der individuellen menschlichen Urängste.
Ahab, der das Böse ergründen will, hat sich längst auf dessen Seite geschlagen. Bei Neumond im April werden ihm alle bis auf einen in die kalten Tiefen des Meeres gefolgt sein. Die Atmosphäre auf dem Schiff schwappt ins Parktheater: mit mystischen Chorälen und lauten Trommelschlägen erzeugen die Schauspieler eine enorme Intensität und dramaturgische Spannung. Das Bühnenbild (Patrick Bannwart) ist hervorragend durchdacht: ein Mast mit drehbarer Unterseite, herabhängende Leuchten und schwarze Kunststofffässer, die auch als perkussive Zielobjekte dienen. Die gesamte Bühne ist mit herausnehmbaren Gitterelementen belegt, die den lauten Schlägen einen idealen Resonanzboden geben.
Die hypnotischen Gesänge transportieren die Stimmung auf dem Schiff und kommentieren die einzelnen, fließend übergehenden Handlungsszenen (Dramaturgie: Johanna Kusche). Die drei Schauspieler zeigen einen enormen Körpereinsatz und überzeugen mit holperfreien Figuren- wechseln: Christian Wincierz unter anderen als Ismael, Björn Jacobsen im Gewand des gespenstischen Ahab und als vergnüglicher Stubb. Hervorragend Marko Werner als Queequeg und Steuermann Starbuck, der moralisch feste, gottesfürchtige und an seiner inneren Schwäche verzweifelnde Gegner Ahabs, der dessen Massenhysterie in fatalistischer Lethargie beobachten muss.
In einer der schönsten Szenen beobachten die Matrosen eine Walherde, die von schwankenden Lampen symbolisiert wird. Die Faszination des Moments macht den Seeleuten die eigentliche Aufgabe ihrer Reise deutlich (Öl für die Lampen der Heimat), bevor sich die Bühne erhellt und das blutige Gemetzel um Moby Dick in sein tödliches Finale geht. Die Lichtquellen im Bühnenboden forcieren die geisterhafte Stimmung an Bord, die nicht zuletzt im Kopf des Zuschauers beschleunigt wird.
Sinn für attraktive Details Regisseur Portmann beweist viel Sinn für attraktive Details. Etwa, wenn er den Schiffskoch auf Berlinerisch den gefräßigen Haien die Leviten lesen lässt oder der marine Personalchef im bayrischen Dialekt seinen Rekrutierungsgeschäften nachgeht. Glänzend, wenn der prophetische Elias die Tragödie mit einem Blues an der Hammondorgel vorhersagt und Ahab seine inneren Konflikte am gleichen Instrument in tonale Dissonanzen überträgt.
Selbst, wenn sich drei Matrosen beim Wal-Quartett die Zeit vertreiben, beginnt der stabile Kurs der vitalen Inszenierung nicht zu schlängeln. Das Braunschweiger Staatstheater zeigt großes Erzähltheater mit Phantasie und Einfallsreichtum. tr
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