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p’tit albert
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theater baden-baden theater im kulissenhaus
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p’tit albert von jean-marie frin
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inszenierung: mario portmann raum/kostüme: britta langanke dramaturgie: judith uhrich mit lorenz liebold
premiere am 16.3.2005
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badisches tagblatt vom 18.3.2005:
Kleine Ticks retten vor der Bedeutungslosigkeit
Ein Stück zum Mitreifen: “P’tit Albert” von Jean Marie Frin im Baden-Badener Kulissenhaus / Sorgfältig in Szene gesetzt
Unter all den “Depps” und “Sabberern” ist Tom im Heim für Geistigbehinderte so etwas wie der Einäugige unter den Blinden. Seit 25 oder 28 Jahren in der “Instinktuition” untergebracht, spielt er seinen Heimvorteil gegen die anderen Sabberer und vor allem gegen die sich normaler dünkenden “Epilepstiker” aus, und auch gegen Ärzte und Schwestern, denen er als “Vernährungsexperte” erst mal zeigen muss, wie man beispielsweise dem kleinen Albert “die Pampe” reinlöffeln muss, dass er nicht “entstickt”.
Lorenz Liebold gibt diesem “verdankten Glückspilz” und “Deppen ersten Ranges”, Tom, in dem Stück “P’tit Albert” von Jean-Marie Frin, das im Baden-Badener Theater im Kulissenhaus (TiK) Premiere hatte, sein Herz und seine Seele. Zusammen mit dem Regisseur Mario Portmann studierte er das Wesen solcher harmlosen und liebenswerten Menschen, denen der behütende Schutzraum entsprechender Einrichtungen einen eigenen Kosmos bietet. Lorenz Liebold weckt Sympathie für diesen “Expertpfleger”, der sich eine gewisse Vorrangstellung erobert hat, weil er im Gegensatz zu den Sabberern die “Gabe der Sprache” beherrscht. Eine Sprache, die zwar einer ganz eigenartigen Diktion folgt, durch Wortverdrehungen, -verstümmelungen oder skurrile Umschreibungen spontane Lacherfolge erntet und Situationskomik am laufenden Band produziert; in ihrem Kern aber meist ins Schwarze trifft.
Obwohl als Ein-Personen-Stück konzipiert, lässt Tom alias Lorenz Liebold sie alle aufmarschieren, die für und in dieser “Instinktuition” das Sagen haben. Verblüffend echt imitiert er den französischen Akzent des Arztes, den englischen der Nurse udn das hohle Pathos der “Politriker” und anderer “Geschwätzter”. Daneben dreht er den atemberaubenden Film ab, den Menschen durchleben und durchleiden, deren Hirnfunktion unter bestimmten Einflüssen dauerhaft oder partiell außer Kontrolle geraten ist. Unbekümmert sich in kindlichen Allmachtsphantasien berauschend, stürzt er in tiefe Traurigkeit, um gleich darauf mit altklugen Phrasen und Diagnosen um sich zu werfen, ungesteuert durch den Raum zu fegen oder fürsorglich den Tisch zu decken.
Diese Rolle verlangt physisch und psychisch das Äußerste vom Darsteller - aber auch vom Publikum. Moment mal: Publikum gibt es in diesem Stück nicht. Indem der in (bitte mitzubringenden!) Filzpantoffeln am Tisch Platz nimmt, mit dem Britta Langanke (Ausstattung) den ganzen Raum ausgefüllt hat, und seinen Plastikbecher und den Teller Nudelsuppe empfängt, reiht er sich ein als Heimbewoohner, als einer der “Depps”, vielleicht sogar als kleiner Albert, und muss damit rechnen, als Sabberer oder “Hydro”(-zephalus) angesprochen zu werden. Plötzlich kann er in den Sog der Zwitterposition von Voyeur und Akteur geraten, denn kein Bühnengraben trennt den Spektator von der Handlung. Sollte man sich dieser “Gefahr” überhaupt aussetzen? Auf jeden Fall! Erstens, weil die ungeheuer sorgfältige und zwingende Arbeit von Regie und Darsteller Beachtung verdient, und zweitens, weil in diesen 90 Minutenmanch eigene wichtige Erkenntnis reifen kann.
“In jedem Menschen steckt mehr oder weniger ein Stück Tom. Wir sind alle hin- und hergerissen zwischen unseren Sehnsüchten, kindlichen Ängsten und unserem Bedürfnis nach Nähe”, gibt Mario Portmann zu bedenken. “P’tit Albert” ist ein Denkanstoß für mehr Toleranz, mehr Einfachheit im besten Sinne des Wortes. In einer Welt, in der es den typischen Null-Linien-Normalo doch gar nicht gibt, ist jeder darauf angewiesen, mit seinen Eigenheiten, Spleens, Ticks, Manien akzeptiert oder wenigstens geduldet zu werden, solange sie ihm erlauben, in der Gemeinschaft bestehen zu können. Manche Menschen wären schon längst im grauen Sumpf der Bedeutungslosigkeit untergegangen, sorgten sie nicht mit schrillen Verrücktheit für Afsehen. Kein normengerechter Normalo zu sein, bedeutet Freiheit und Gnade: “Glückselig die Armen im Geiste”, steht in der Bergpredigt. Allerdings sollte der Gedanke nicht zu Toms Credo verführen: “ Es ist besser ein Depp zu sein, als sich seine Brötchen selber verdienen zu müssen.”
Gisela Brüning
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baden-badener neueste nachrichten v. 18.3.2005:
Daheim im Heim
Jean-Marie Frins Monolog “P’tit Albert” in Baden-Baden
Dass man seine Hausschuhe mitbringen soll, wenn man ins Theater geht, erlebt man nicht oft. Auch Essen ist dem Publikum während der Vorstellung gewöhnlich verboten. Ganz anders in der neuen Produktion des Theaters Baden-Baden: “P’tit Albert” heißt das Ein-Mann-Stück des Franzosen Jean-Marie Frin, das im Kulissenhaus die Zuschauer zu Mitspielern macht. Denn als Bühne dient der gesamte Aufführungsraum. Ausstatterin Britta Langanke hat einfache Tische zu einem großen Rechteck zusammensgestellt und so den Szenenort - der permanent hell ausgeleuchtete Speisesaal einer psychiatrischen Anstalt - geschaffen. Wer Platz nimmt, wird selbst zum Insassen und bekommt warme Suppe.
Und kann dem Monolog des selbst ernannten “Expert-Pflegers” Tom zuhören, der eigenlich selbst zu den “Debs”, den “Debilen” gehört, anderen Kranken aber geistig überlegen ist. Während Tom auf seine Weise den Tisch deckt (wobei durchaus auch mal Plastikteller durch die Luft fliegen), erzählt er vom Alltag im Heim,von seinem kurzen Ausflug nach “draussen” zu Pflegeeltern, die ihn ausgebeutet und misshandelt haben, und von den anderen Heiminsassen, den “Epileks” und den “Sabberern” - darunter vorallem der kleine Albert, der ihm besonders ans Herz gewachsen ist.
Das Heim als Heimat und die Mitpatienten als Ersatzfamilie: Lorenz Liebold überzeugt in der Rolle des Tom über 90 Minuten hinweg mit einer hoch konzentriert dargebotenen schauspielerischen Leistung. Ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben, blättert er unzählige Facetten von Toms Krankheitsbild auf: die unkontrolliert-raumgreifenden Körperbewegungen des Spastikers, das leise Murmeln ritualisierter Sätze zur eigenen Beruhigung, das plötzliche Aufbrausen, Sich-auf-den-Boden-Krümmen. Und dann wieder die zarten und nachdenklichen Momente, in denen Tom sehr einfühlsam, sehr verletzlich wirkt.
“Meine Konservation macht Sinn”, sagt Tom in der ihm eigenen kindlich-naiven Art zu sprechen, und meint eigentlich “Konversation”. Doch die Wortverdrehungen des unfreiwilligen Sprachschöpfers machen manchmal den Blick frei auf einen ebenso gültigen Hintersinn. Und manchmal sind sie so voller Poesie, dass sie abgegriffenen Vokabeln mit neuem Leben erfüllen: “vor irgendkeinem war ich da” heißt es einmal, und: “manchmal denk ich auch dran, mich zu heiraten”. Da kann man Einsamkeit heraushören, und das überwältigende Bedürfnis, mit anderen in Kontakt zu treten. Wohl deswegen hat Regisseur Mario Portmann das Publikum als Ansprechpartner für Liebold an die Tische gesetzt. Und der bezieht es ein, mit einem gehörigen Improvisationstalent. Mitmachen statt Voyeurismus geht als Konzept aber nur bis zu einem gewissen Grad auf. Denn so paradox es klingt: für den Zuschauer auf der Bühne ist das Bewusstesein dafür, dass hier Tehater gespielt wird, grösser als für den, der sich auf den abgedunkelten Rängen vergessen könnte - und das schafft eher Distanz als Konfrontation. Und reizvoll ist das Experiment, das ausgiebig Applaus erhielt, allemal.
Annette Kätsch-Hattendorf
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