mario portmann

rückschau eins

seekarte

vom sinn, das rad neu zu erfinden, immer wieder…

gesucht:
theater als ein raum, in dem ein einzelner unter voller entfaltung seines schöpferischen ich’s die wirklichkeit und ihre widerspüche erkunden, seine eigenen fragen und sein wundern über sich selbst und seine umwelt in sinnlich-ästhetischer form formulieren und damit sich selber (und andern) vergegenwärtigen kann.

für uns hiess das nichts geringeres, als an die politische und subversive kraft von theater über den prozess des selbererfindens zu gelangen. (gemeinhin definiert sich der politische zugriff von theater über den inhalt, den sich eine aufführung gibt).

wichtig wird, den begriff „politisch“ in einer umfassenderen bedeutung zu sehen. führen wir nochmal kants meistzitierten satz an:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht an Mangel des Verstandes, sondern der Entschlissung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere Aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

unsere arbeitsthese: ein mensch ist dann politisch, wenn er sich kraft seiner eigenen urteilskraft zu sich, seinen lebensumständen und deren rahmenbedingen autonom, das heisst ohne ungeprüft auf vorgedachtes zurückzugreifen, verhält.

wichtig für uns war also, nicht nach neuen ergebnissen im probieren von theater zu fahnden, sondern nach eigenen. wer das rad neu erfindet, hat es sich angeeignet. wer nur aus dem lexikon abschreibt, gibt freiwillig ein stück gedankenfreiheit auf.

das hiess:

  • nicht nur die themen sollten selber geschöpft werden, sondern auch die mittel, diese zu fassen, bearbeiten, erzählen. denn in der form liegt ein eigener inhalt, und die formalen mittel nahezulegen, wäre eine weitere technik der bevormundung, der horizontbeschränkung.
  • es mussten werkzeuge entwickelt werden, die eigenes versuchen befördern, ohne lösungen damit anzubieten. die frage an uns spielleiter war: was ist das unverzichtbare minimum an technik, um theatrales suchen konstruktiv zu gestalten? was ist das basiswerkzeug, mit dem alle anderen werkzeuge entdeckt werden können?

erste reiseetappe: aneignung           [->merlin ->menoza]

aus den eigenen erfahrungen als theatermacher schöpfend, hielten wir es bei den ersten beiden versuchen für ratsam, „pädagogisch“ umsichtig auf den freien flug vorzubereiten. die seminare gaben dazu auch genügend raum und zeit. wir verfolgten ein vier-punkte-programm:

1. grundlegende schauspieltechniken selber erfahren

2. wichtige begriffe kennenlernen, um für die eigenen arbeit eine gemeinsame sprache zu haben

3. literarische vorlage, in der man seine eigene geschichte entdecken konnte / sollte.

4. autonome projektphase, in der alles angewendet und eigenständig erkundet wurde. jeder teilnehmer erhielt als spielleiter seiner szenen die unterstützung der spielenden kollegen.

wir waren also selber noch sehr bemüht, einen systemischen kontext anzubieten. das projekt war auch für uns neuland und das bedürfnis, handreichungen zum kreativen krisengeschehen anzubieten, ausgeprägt. auch trauten wir uns noch nicht, die ergebnisorientierte form spielleiter – spieler aufzugeben. ebenso als „notschirm“ ist die entscheidung zu sehen, jeweils eine sehr gute dramatische vorlage als basis zu wählen.

beide projekte, „merlin“ und „menoza“ zeigten ermutigende resultate. sie waren reich an überraschungen, echten theatralen momenten und eigenwilligen perspektiven.

 

zweite reiseetappe: das eigene                 [->valentins tag]

ein ergebnis ermunterte besonders, weiter zu gehen:

es erfanden sich etliche der teilnehmer der ersten beiden durchgänge für ihre szenen eine form, die man als „performativ“ bezeichnen kann. den theaterbegriff also zu erweitern, schien richtig. denn „performance“, verstanden als das freie ästhetische spielen mit material, ohne rücksicht auf eingeübte wahrnehmungsverfahren und dramatische konventionen, macht das spielfeld erst richtig frei. für uns, die leiter, ebenso neuland, da wir eher konventionell geprägte erzähler waren.

das “thema” - wider allgemeiner plätze

für den weg zum eigenen thema (das eigentliche ziel aller versuche) schien grundlegend: fruchtbar wird eine suche, wenn es gelingt, die beschäftigung mit dem thema oder der fragestellung mit einer bestimmten tiefenschärfe zu betreiben. das angelernte, scheinbar gewusste musste überwunden werden.

und die einfachste technik dazu müsste sein, den unverstellten, persönlichen blick zu schärfen. aus dieser überlegung begannen wir ab dem dritten durchgang des seminars uns, als arbeitsetappe, mit biographischen szenen zu beschäftigen.

  1. sie lenkten den blick auf ein feld, in dem jedermann bereits diffizil wahrnehmender experte ist.
  2. auch wurzelt die tiefe bewegung, die uns ein thema auswählen lässt, in der eigenen biographie, der unverwechselbar persönlichen sichtweise auf welt.
  3. ein drittes plus dieser arbeit war, dass jedefrau/man schauspielerisch aus einem feld schöpfen konnte, das spezifisch und konkret war. ein geeignetes mittel, um von falscher, allgemeiner theatralität wegzukommen.

die ergebnisse des „biographischen workshops“ waren so berührend und intensiv, dass wir uns entschieden, diesem weg ins grosse sommerprojekt zu folgen. allerdings wollte man nicht persönlich im kreuzfeuer stehen. wo beginnt theater, und wenn ich eine persönliche, ja private geschichte erkunde, worin wird das einem unvoreingenommenen zuschauer gegenüber erzählwürdig? wo ist die grenze zur therapie?

[zur „biographischen etüde“ habe ich hier noch weiteres ausgeführt.]

die neugierde ging in die richtung, mit den kennengelernten mitteln sich die eltern und grosseltern vorzunehmen. in ihren biographien nach drehpunkten und uns interessierendem material zu fahnden. und dieses dann zum gegenstand einer aufführung zu machen.

tatsächlich gelang mit „valentis tag“ eine erstaunlich schöne annäherung an lebensfragen, die weit weg von uns schienen und doch sich im heute wieder finden liessen.
formal war dieses projekt „traditionell“, also situativ-erzählendes theater.

 

dritte etappe: das eigene thema – im weiten sinne

[->spezialitäten ->körper-steine/piazza]

die nächsten beiden durchgänge hatten erkundung von themen, die die teilnehmer bewegten, unter den nägeln brannten zum ziel.

das thema, forts.: vom besonderen zum allgemeingültigen?

wie gesagt, das problem mit „themen“ ist, dass sie uns immer irgendwie betreffen, meistens aber in einem eher diffusen, allgemeinen sinn. nehmen wir das thema „ausbeutungsverhältnisse im alltag“. es lässt sich fürstlich dazu diskutieren und zitieren. sehr lange verbleibt man auf der oberfläche des themas, dem meinungsmainstream (der ja auch verschiedene positionen anbietet). interessant und ergiebig wird es erst, wenn der subjektive blick (mit allen grenzen und einengungen) uns leitet.

für uns gültige (künstlerische) aussagen können wir letzten endes nur zu dingen machen, die wir kennen, die wir erfahren haben. sie können wir, bei genügend sensibilität, in ihren widersprüchen und paradoxien beschreiben. wie dazu durchdringen?

unsere these war, dass die wahl für ein thema immer persönlichen, tieferliegenden bedürfnissen folgt. und dass es, bei der wahl eines themas also nicht unmittelbar um das thema gehen sollte, sondern um den impuls, es zu wählen. die arbeit am thema brachte also immer die verlagerung des fokus auf uns selbst mit sich. gut möglich, dass der theaterabend oder die performance sich am ende überhaupt nicht mehr ums zuerst gewählte „grosse“ thema drehten.

diesen prozess, der zugebenermassen, eine gute portion reflexion und intellektuelle auseinandersetzung mit sich brachte, lockerten wir auf, indem wir methoden ausprobierten, die unsere suche mit unbewussten, irrationalen elementen anreicherten. zb. assoziationsreihen, traumarbeit. um material zu gewinnen, dass die immer zu enge vernünftige perspektive erweitert, ins poetische vergrössert.

rückblickend wird den spielern dieser projekte vor allem die mühsame arbeit an den allgegenwärtigen allgemeinplätzen in erinnerung sein. an der ratlosigkeit, die einen überfällt, wenn man zwei, drei etagen tief ins „thema“ eingetaucht ist und nicht mehr auf „gelerntes“ zurückgreifen kann. auch an das gefühl, des „nicht-genügens“, dem scheitern am eigenen anspruch.

die fünf projekte der jahre 1997-1998 waren formal höchst unterschiedliche arbeiten. bei allen ging es zusätzlich darum, einen guppenprozess in gang zu halten. wir liessen die vereinfachende und energiesparende teilung in spielleiter und spielende (im wechsel) weg. das eröffnete weitere, mitunter anstrengende herausforderungen für die teilnehmer.

bis auf eine gruppe entwickelten sich aber überraschend schnell produktive strukturen. für uns, immer weiter aussenstehende „leiter“ auch höchst interessante und mutige umsetzungen (die teilnehmer waren nicht immer dieser auffassung).

 

das „basiswerkzeug“

im laufe der seminare zeigte sich, dass es im wesentlich keines besonderen vorwissens bedarf, dass die not, alles selber zu erfinden, tatsächlich produktiv macht, und dass in der tat sogar ergebnisse entstehen können, die ästhetisch denen einer gruppe mit „professionellen“ spielleitern in nichts nachstehen.

das einzige und essentielle werkzeug dazu war, es mag verdächtig simpel klingen, das handwerkszeug des beobachtens und beschreibens. und dazu sammelten wir einige einsichten.

nutzt man für einen nicht-geleiteten suchprozess eine drei schritte umfassenden „technik“ der rückmeldung, so wird die reise nie an ort stehen bleiben. wie weit der weg einen führen wird, ist nurmehr eine frage der zeit. „talent“, egal in welcher hinsicht, hilft, die zeitspanne zu verkürzen, ist aber nicht notwendig. die grundtalente, die wir alle haben, reichen aus.

1. beschreiben.

beschreiben ist eine kunst. gut eingesetzt legt sie alles frei, was für einen weiteren versuch notwendig ist. eine beschreibung gibt auskunft, über das was ist. sie muss sich absolut darauf beschränken. das ist das schwierigste. wertungen beispielsweise („ich fand das doof“) öffnen das feld für persönliche auseinandersetzungen und verletzungen, die den fokus vom prozess auf ein hinderliches feld verlagern.

2. die entstandenen phantasien, assoziationen zurückmelden.

welche geschichte ist vorgegangen? was hat sie in mir an gedanken und phantasien ausgelöst. dieser schritt kann überraschende perspektiven zur diskussion beisteuern. facetten einbringen, an die keiner der beteiligten gedacht hat.

3. die eigene „anteilnahme“ als zuschauer in form eines spannungsdiagramm skizzieren.

im ersten schritt, und das ist wichtig, wertfrei und präzise die momente eingrenzen, in denen man als zuschauer bei der sache war, bzw. in denen man bei sich selber festgestellt hat, dass die aufmerksamkeit nachlässt. hierin ist jedefrau/mann tatsächlich experte. wir haben bei auswertungsgesprächen mit schülern beispielsweise erfahren, dass sie, so beschreibend, exakt dieselben momente herauslösten, die die „profis“ als problematisch erkannt hatten. der unterschied lag dann darin, dass die „profis“ aufgrund ihrer erfahrung schneller „lösungsvorschläge“ präsent hatten. (und, meiner ansicht nach, genau darin auch eingeschränkter, enger waren).

und dann?

mit dem so gewonnenen material kann die gruppe nun problemlos weiterarbeiten.
die beschreibung (1) gibt, ganz von alleine, auskunft über die schauspielerische ebene. ist bspw. ein spieler nicht in der situation, so entstehen vorgänge (und phantasien (2)), die nichts mit der intendierten geschichte zu tun haben.
die unter (3) benannten momente bedürfen der weiteren klärung. das heisst, man nimmt sie sich einzeln vor und sammelt ideen, wie eine bestimmte sache besser, treffender rüberzubringen wäre.
hier ist zu beachten, dass jeder (!) vorschlag nicht diskutierend erörtert werden darf, sondern ausprobiert werden muss.

dann probt, bzw. spielt man die szene erneut und beginnt wieder bei punkt 1.

erstaunlich war, je genauer punkt (1) berücksichtigt wird, desto weiter schaffen es die „laien“, auch schauspielerisch an qualität zu gewinnen. ganz ohne schauspielpädagogische rezepte zur hand zu haben.

resumee

es lösten sich viele hoffnungen ein, die wir an die versuche in jena geknüpft hatten. und zwar sowohl auf der ebene der binnenprozesse, als auch was die intensität der theatralen ereignisse anging.

da wir es mit studenten zu tun hatten, gab es eine grosse affinität zu den reflektierenden bereichen der arbeit, inkl. den beschriebenen dreischritt. das problem bestand, naturgemäss, eher darin, vom reden ins tun zu kommen. hier eine produktive, energie freisetzende ökonomie zu finden, war das eigentliche kunststück.

im imaginata theater setzten etliche der absolventen der seminare ihre persönliche recherchen auf eigene faust fort.

nach jena ergab sich die verlockende möglichkeit, dieses an einem stadttheater und mit jugendlichen auszuprobieren. wie würde das funktionieren? auf welche ergebnisse dürfte man sich freuen? und was bedeutete es, dass wir mit menschen arbeiten würden, die im theaterspielen eher eine flucht vor den schulischen reflexionspflichten suchen? wie wird sich der umstand auswirken, dass jugendliche wesentlich weniger zeit investieren können, als studenten? ist überhaupt die idee als solche vermittelbar?