der nagel auf der autobahn
kant im kreis nimmt man den von kant geforderten "ausgang aus der selbstverschuldeten unmündigkeit" als konstituierende prämisse einer demokratischen gesellschaftsordnung, so fällt ein grundlegender widerspruch auf:
systeme gründen auf einem regelkanon. nennen wir ihn verfassung, tradition oder marktgesetz. der spielraum nun, in dem an den regeln geschraubt werden kann, ist relativ eng, bei den ganz grundsätzlichen fragen sogar überhaupt nicht vorhanden. zu gross, zu unüberschaubar, zu kompliziert ist das sozial-ökonomischen netzwerk geworden, das gesellschaft heisst. in unserer ohnmacht begreifen wir immerhin, dass von der stabilität der grossen maschine unser wohlergehen abhängt. die furcht vor der instabilität des sytems wächst aber im selben masse wie die ohnmacht. und wo furcht zur bestimmenden kraft im öffentlichen diskurs wird, ist verschärfte ideologisierung der systemregeln die antwort. anders ausgedrückt: einmal auf der autobahn in schwung geraten, steigt die angst vor dem platzenden reifen überproportional.
das bedrohlichste element für ein (solches) system muss folgerichtig das individuum sein, das sich der definitionshoheit der regelwahrer, der instanzen und experten entzieht und den anspruch auf die verfertigung eigener urteile und schlussfolgerungen durchsetzt. kants mündiger bürger: der nagel auf der autobahn.
zähmende vernunft wir leben tatsächlich in einer freiheitlichen ordnung - keine repressive behörde möchte uns an der teilhabe und mitgestaltung hindern. die immobilisierung geschieht viel unauffälliger, vernünftiger. auf den einzelnen bezogen kann man diesen vorgang „sozialisierung“ nennen. sozialisierung im sinne der erziehenden selektion von entscheidungs- und verhaltensoptionen. ein verfahren, dem wir eher unterworfen sind als dass wir es mitgestalten. dennoch empfinden wir es als wertvoll und die einrichtungen, die damit befasst sind, geniessen höchsten respekt: die familie, die schulen, die justiz, etc.
unruhe und die sucht nach besänftigung formulieren wir es mal im umkehrschluss: „sozialisierung“ bedeute in erster linie das ungeprüfte ausschliessen von lebensoptionen. ich lese diesen satz und ahne, dass der schreiber mich warnen möchte. und ich wundere mich. warum sollte ich mich empören? ich weiss natürlich, die aufforderung der gemeinschaft, in ihr mitzuwirken, nimmt sich aus wie die einladung zu einem kartenspiel, an dessen regeln ich nie mitgearbeitet habe und dessen kartensatz die maximale anzahl meiner zulässigen optionen darstellt. aber doch mit gutem grund! ich bin dennoch überzeugt, frei in meiner wahl zu sein. denn es erscheint mir vernünftig und sinnvoll , bestimmte dinge nicht zu wählen, zu denken, zu erwägen. wie kommt das? wiederum kant verdanken wir (die waghalsige vereinfachung sei mir gestattet), dass die vernunft und das wissen den glauben und die spekulation ersetzt haben. und das ist schön. von klein auf lerne ich, vernünftige antworten auf meine fragen zu fordern. und es gibt immer, zu jedem beliebigen zeitpunkt meines lebenswegs, eine instanz, die die unruhe einer frage mit einer sinnvollen antwort zu besänftigen vermag. aber genau dort, wo wissen als rezept für den “ausgang aus der unmündigkeit” angeboten wird, stiftet es unmündigkeit neu. denn abhängig von antworten auf unsere fragen, abhängig von experten und fachleuten, verlieren wir den mut, die lust und zuletzt die fähigkeit, eigene antworten zu erfinden.
kants diktum geht weiter: “unmündigkeit ist das unvermögen, sich seines verstandes ohne die leitung eines anderen zu bedienen.” wenn wir sehen, dass die lebensplanformenden institutionen keine freiräume zur verfügung stellen, in denen wir ohne leitung der unruhe und bewegung unserer fragen überlassen sind; wenn wir sehen, dass es auf unserem bildungsweg kaum foren gibt, in denen ALLE optionen eines lebensplanes gleichwertig zur freien untersuchung bereit stehen; wenn wir in der überwiegenden mehrzahl unserer entscheidungen zwischen vernünftigen antworten auswählen aber keine selber beitragen: können wir dann allen ernstes von uns sagen, dass wir frei sind in dem sinne, den bspw. die präambel der schweizer verfassung von uns fordert: „dass frei nur ist, wer seine freiheit gebraucht.“ ?
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