textauszug:
1960, in der bar, valentin geht den anfang seines artikels durch.
eine stadt geht unter. ich sitze in meiner kleinen stadt, meiner heimatstadt. kein lärm dringt durch die offene tür, kein auto fährt vorbei, kein eismann kündigt sich mit seiner glocke an. kein kind schreit nach seiner mutter. das rauschen und brausen, das klingeln und klappern, das tönen und dröhnen der strasse ist verebbt. nur der wind spielt mit den offenen türen und fensterläden. er pfeift durch die strassen und bläst einen vergessenen hut vor sich her. die uhren sind stehengeblieben, es ist niemand mehr da, der sie aufziehen würde. mensch und tier haben die stadt verlassen. mit hab und gut sind sie aufgebrochen, um anderswo neu anzufangen. denn vor den stadttoren steht das neue jahrzehnt. in gestalt einer riesigen staumauer teilt es unser tal in zukunft und vergangenheit. in zwei tagen werden armeeeinheiten die verlorene seite ein letztes mal durchkämmen und sie dann ihrem schicksal überlassen. langsam werden sich die strassen mit wasser füllen, die keller voll laufen und stetig werden die häuser, eines nach dem anderen, in dem riesigen see verschwinden. zuletzt wird man noch die kirchturmspitze der alten romanischen kirche sehen. vielleicht wird ihre glocke auch dann noch die stunden schlagen und die unheimliche stille zerreissen, mit der das wasser weiter steigt. schliesslich wird auch sie untergehen und für immer verstummen. aber so lange sie schlägt, sehe ich den marktplatz vor mir, auf dem sich die leute trafen um zu handeln, streiten und die letzten neuigkeiten auszutauschen. ich sehe das kolonialwarengeschäft, wo wir als kinder den duft der weiten welt einatmeten, den schuhladen, in dem inge gearbeitet hat. ich sehe den bäcker, den fleischer und den tabakladen. auf der anderen strassenseite liegen der gerber und der laden des korbmachers. doch ich höre die ladenklingel nicht, die immer beim betreten schellte und deren klang mir gänsehaut machte. und dann gab es ja noch das freibad mit dem zehnerturm. zwei kilometer vor der stadt, am ufer des kleinen sees. ich selber sitze in der tangobar mit ihren kleinen runden tischen, in schummrigem halbdunkel. die “verruchte tangobar”. so wurde sie tatsächlich genannt. jeden abend gab es hier musik und tanz. heute fehlen die bilder an den wänden, die birnen der lampen sind herausgeschraubt, staub und dreck überall. ihre besten zeiten liegen so lange zurück. was der kolonialwarenladen für die kinder, war die tangobar für uns im jugendalter: ein fenster ins leben, rauchgeschwängert und lockend verdorben. wir drückten uns die nase platt an den kleinen fenstern, um etwas von den eleganten tanzpaaren zu sehen, dem küssen und singen der reisenden auf dem weg in die grosse stadt.
im laufe des ersten weltkrieges machten die behörden das städtchen zur garnisonsstadt und die bar musste den betrieb einstellen. in ihren räumen wurde ein provisorisches lazarett eingerichtet. an einem tag im jahre 1917, es war der 14. september, wurde dieser ort zum stadtgespräch. vier hochschwangere frauen, die im kleinen krankenhaus nicht mehr untergebracht werden konnten, brachten hier, vielleicht hinter, unter, auf diesem tisch, innerhalb einer halben stunde ihre kinder zur welt: inge, hans, martha und mich, valentin.
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